Kapitel 2 – Das Ruhr-Center

2.2 Entwurzelt

Vergangenheit, 9 Jahre zuvor

Alexandra Kern verließ den Lift auf Ebene sechs. Das Treppenhaus roch noch immer nach demselben Gemisch aus Reinigungsmitteln. Der Geruch ließ ihre Gedanken abrupt neun Jahre zurückgleiten – zu jenem fünfzehnten Geburtstag, als ihre Mutter sie ins Machtzentrum der Familie Schröder hier ins Ruhrcenter gebracht hatte, nicht ahnend, dass dieser Tag Alexandras Leben unwiderruflich verändern würde.

Ilona Schröder, geborene Kern, hatte ein Kind bekommen, das sie nie gewollt hatte. Nicht von ihrem Mann Markus, sondern von dessen Bruder Frank. Nur fünf Menschen kannten die Wahrheit: ihre Großeltern Hermann und Marion, Ilona, Frank – und Markus, der es nicht sein konnte. Er war zum Zeitpunkt der Zeugung in Peking gewesen, weit weg, als Ilona längst im dritten Monat war.

Die Familie schwieg. Alexandra erfuhr nie von ihrer Mutter, wer ihr Vater war. Stattdessen lernte sie früh, wie sich Hass anfühlt – und wie Verachtung klingt, wenn sie von allen Seiten kommt. Gewalt, körperlich wie seelisch, wurde zum ständigen Hintergrundrauschen ihres Lebens.

In der Villa Concordia in Münster lebten die Schröders unter einem Dach. 150 Zimmer, Zwei Großeltern, deren vier Söhne, deren Frauen, deren Kinder. Nur einer mochte sie: Julian, ihr Halbbruder, Sohn von Frank Schröder. Leider mochte er sie auf eine Art, die Alexandra nie vergessen wird.

Er war siebzehn, als er sie das erste Mal missbrauchte. Alexandra war vierzehn Jahre, zehn Monate und siebzehn Tage alt, mit dem Körper einer Jugendlichen an der Schwelle zur Frau, aber noch der Stimme und dem Gesicht eines Mädchens. Sie suchte Hilfe bei ihrer Mutter. Die glaubte ihr nicht, schlug sie sogar – wegen dieser angeblich bösartigen Lüge.

Alexandra ging zur Polizei. Vielleicht hätte es anders geendet, wäre sie nicht die Enkelin des Bürgermeisters der Ruhrstadt gewesen – Hermann Schröder, schwerreicher Industrieller mit Geld, Einfluss und einem weit gespannten Netzwerk.
Eine junge Polizistin nahm den Fall ernst. Julian verstrickte sich in Widersprüche. Der Fall kam vor Gericht.
Doch Macht beugt. Gutachten wurden gegen sie gedreht, Zweifel gesät – bis das Opfer selbst auf der Anklagebank saß.
Urteil: 120 Sozialstunden. Wegen falscher Verdächtigung und Vortäuschung einer Straftat.

Ihr fünfzehnter Geburtstag markierte den Tag, an dem sie aus dem Familienverband der Schröders ausgeschlossen wurde.

Kaum war Alexandra damals aus dem Aufzug getreten, machte sie einen Schritt in Richtung des Bürotrakts der Schröder Holding AG. Doch die Stimme ihrer Mutter schnitt durch die Luft wie ein kaltes Messer.
„Bleib da!“

Ohne ihre Tochter anzusehen, schloss sie die Stahltür rechts vom Aufzug auf.

Alexandra wusste, wohin diese Tür führte: nach Ebene 7. Jene Etage, über die in der Familie immer wieder geredet wurde. Ihre Großmutter hatte nie aufgehört, den Großvater damit zu verhöhnen – wegen der zehn Millionen, die er, so ihre Worte, zum Fenster hinausgeworfen hatte. Was es mit dieser Etage auf sich hatte, wusste Alexandra nicht so genau. Irgendetwas in Zusammenhang mit dem Kalten Krieg.

Drei Treppenabsätze führten U-förmig um den Aufzugsschacht nach oben. Ihre Mutter entriegelte ein Stahlgitter, das den Zugang am Ende der Treppe versperrte. Alexandra zögerte. Etwas in ihr zog sich zusammen – ein beklemmendes Gefühl breitete sich aus. Ihre Mutter schob sie grob hindurch.
„Mach voran, Mädchen. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“

Das Gitter schloss sich wieder hinter ihr, mit einem hallenden Klirren. Sie zuckte vor Schreck zusammen und drehte sich um. „Wie ein Gefängnis“, schoss es ihr durch den Kopf. Rechts neben dem Gitter, das den Rückweg ins Treppenhaus versperrte, befand sich eine verschlossene Aufzugtür. Man konnte hier nicht hochfahren – im Aufzug gab es keinen Knopf für diese Ebene. Und selbst wenn – das zweite Gitter davor machte jeden Versuch zunichte. Ihre Mutter grinste.

„Was machen wir hier oben?“, fragte Alexandra leise und ängstlich.

„Du hast doch sonst so eine blühende Fantasie“, sagte ihre Mutter zynisch. „Denk dir was aus.“

Sie trat zur einzigen Tür, die es auf der quadratischen Fläche gab – vielleicht fünf mal fünf Meter groß, am Ende dieses kargen Treppenhauses. Ohne ein weiteres Wort schloss sie sie auf.

Zögernd trat Alexandra bis zur Türschwelle. Die Luft roch nach frischer Farbe und neuen Möbeln, kühl und fremd. Ihre Hände waren schweißnass.
Der Raum öffnete sich weit vor ihr. Links und hinten zogen sich bodentiefe Fenster entlang, dahinter eine Freifläche, dann eine dreiviertel Meter hohe Mauer, auf der Glasflächen bis zu einem Glasdach aufsaßen. Das musste die verspiegelte Front sein, die man von außen auf der obersten Ebene sehen konnte. In der hinteren Ecke stand eine Eckbank, davor ein großer Tisch. Drei Stühle an der langen, einer an der kurzen Seite. Entlang der linken Wand niedrige Holzschränke, am Ende eine Tür. Es war scheinbar eine Wohnung.

Rechts von ihr lag die Küche. L-förmige Theke, dunkles Blau, Granitplatten. Der Fußboden sandfarben, die Wände in Apricot. Alles wirkte ordentlich, neu – als hätte sich jemand über den Stil der Wohnung viele Gedanken gemacht.

Ilona setzte sich auf einen Barhocker.
„Das hier ist dein neues Zuhause. Ab sofort wohnst du hier. Für die Villa Concordia gilt ab heute Betretungsverbot.“

Alexandra starrte sie entgeistert an.
„Warum?“, fragte sie, den Tränen nahe.

Ilona Schröder stand auf und schlug zu.
„Weil du ein verlogenes Dreckstück bist!“

„Ich habe nicht gelogen. Warum glaubst du mir nicht?“

Die zweite Ohrfeige kam härter. Ilona rieb sich danach die Handfläche. Tränen liefen über Alexandras Gesicht, doch sie weinte nicht – nicht, weil sie mentale Stärke besaß, sondern weil sie die triumphierenden Gesichtszüge ihrer Mutter nicht ertrug, wenn sie Alexandra demütigte.

„Wage es nicht, deine Lügen erneut zu formulieren.“ In ihrer Stimme lag eine eindeutige Drohung. Sie betrachtete ihre Tochter mit einem Ausdruck tiefster Geringschätzung. Ilona Schröder ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Eingerichtet hat das meine Schwägerin Ilka, wenn es dir nicht gefällt, beschwer dich bei ihr!“, sagte sie kühl.

Ilona legte einen Schlüsselbund auf die Theke.
„Blau – Stahltür Ebene 6 , Gittertür am Ende der Treppe und Gittertür vor dem Aufzug. Du kannst den Aufzug nach oben rufen – aber nur, wenn er leer ist. Hochfahren kannst du nicht. Gelb – Wohnungstür. Rote Markierung – diese Tür.“

Sie zeigte auf eine Tür rechts von der Wohnungstür.
„Alles dahinter gehört nicht zu deiner Wohnung. Ob du dort Kontrollgänge machst, ist dir überlassen. Alle Zugänge in den Räumlichkeiten hinter der Tür außer deinem sind gesperrt. Die Schlüssel stecken nur von deiner Seite – auch die Ersatzschlüssel.“

Sie legte vier weitere Schlüsselbunde auf die Theke.
„Alle identisch mit diesem. Damit du nicht wieder behauptest, jemand aus meiner Familie dringe in dein Zimmer ein und vergreife sich an dir – niemand hat Zutritt zu deiner Wohnung!“

Alexandra stand neben ihrer Mutter, die Schultern hängend. Die Worte drangen zu ihr durch wie durch dichten Nebel.

Ilona legte eine Kreditkarte und einen Zettel auf die Theke.
„Wir haben ein Konto für dich eingerichtet. Bis zu deiner Volljährigkeit bekommst du monatlich 5.000 Euro. Als Starthilfe liegen 20.000 darauf. Die Zugangsdaten fürs Onlinebanking stehen auf dem Zettel.“

Sie griff in ihre Handtasche, zog einen Bündel Geldscheine heraus und warf ihn achtlos auf die Theke.
„Das dürfte fürs Erste reichen. Deine Sachen bekommst du bis spätestens um zwölf – die Hausmädchen packen sie, und ein Fahrer bringt sie hierher.“

Alexandra blickte auf das Geld, die Kreditkarte, den Zettel.
„Warum, Mama? Warum hasst du mich so?“

„Noch einmal, Alexandra – und zum allerletzten Mal: Ich habe dich nicht gewollt. Du warst ein Unfall. Ich bereue, dass ich den Zeitpunkt verpasst habe, dich wegmachen zu lassen. Ich habe nie etwas für dich empfunden – und ich werde es nie.“

Alexandra schluckte. Ilona fuhr fort:
„Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich zur Adoption freigegeben!“

Der Satz war ihr herausgerutscht. Alexandra reagierte sofort.
„Wer war dagegen? Mein Vater?“

Ilonas Stimme wurde höhnisch.
„Dein Vater? Der hätte dich nach deiner Geburt am liebsten ersäuft.“

Es war ein Schlag, härter als jede Ohrfeige.

„Hör auf, nach ihm zu fragen. Du wirst es nie von mir erfahren! Mag sein, dass ich kein gutes Verhältnis zu dir habe – aber dein Vater ist ein Arschloch. Durch und durch!“

Es traf Alexandra ins Herz. Sie glaubte ihr nicht. Und doch war da Unsicherheit. Vielleicht wusste er nichts. Vielleicht hatten die Schröders ein Kontaktverbot erzwungen. Vielleicht gab es andere Gründe. Vielleicht war sie ihm aber auch völlig egal.

Ihre Mutter wandte sich zum Gehen. Alexandra hielt sie mit Worten zurück.
„Wenn er so war, wie du sagst – warum hast du dann mit ihm geschlafen?“

Ilona drehte sich um, schlug ihr erneut ins Gesicht. Wortlos öffnete sie die Wohnungstür und ging. Die Tür fiel ins Schloss.

Etwa zehn Sekunden später klopfte es – dumpf, kaum hörbar.

Alexandra öffnete.

„Ich komm hier nicht weg. Habe keine Schlüssel mehr.“

Alexandra kämpfte mit den Tränen. Nicht wegen der schmerzenden Wange, sondern weil ihre Seele brannte.
Sie schloss das Gitter zum Aufzug auf. Der Aufzug kam. Ihre Mutter stieg ein. Die Tür schloss sich.