2.3 Mediterrane Frische, ballistisches Glas
Gegenwart
Alexandra wischte ihre Erinnerungen beiseite. Das Treppenhaus hier oben hatte ein anderes Gesicht bekommen, es war nicht mehr der kalte Ort von damals. Sie setzte sich auf eine Holzbank gegenüber den beiden Stahlgittern, die sie damals als bedrohlich empfunden hatte. Neben der Holzbank stand ein kleiner Tisch. Es gab eine Garderobe, ein Schuhregal.
An der Wand hing ein großformatiges, schlicht gerahmtes Foto. Die Farben waren satt, aber nicht aufdringlich. Es zeigte ein einzelnes Gleispaar, das sich schnurgerade durch flaches Land zog. Die hölzernen Schwellen waren vom Wetter vergraut, an den Schienenkanten lag ein feiner Rostfilm. Links und rechts dehnten sich Felder in unterschiedlichen Grüntönen, dazwischen schmale Wiesenstreifen mit vereinzelten Mohnblüten. Am Horizont zog sich eine dichte Baumreihe, dahinter der blasse Umriss niedriger Hügel. Über allem ein Himmel, zur Hälfte von weißen Wolken bedeckt, zur Hälfte in klarem Blau. Keine Züge, keine Menschen, keine Tiere – nur Stille und eine Spur von Vergangenheit. Für jeden Besucher war es ein friedliches Landschaftsbild. Für Alexandra war es eine Mahnung, keine Entscheidung zu treffen, die nicht bis zum Ende bedacht war.
Alexandra betrat ihre Wohnung und atmete den vertrauten Geruch ein: frische Luft, durchzogen von der mediterranen Mischung, die sie selbst zusammengestellt hatte – Zitrone, Rosmarin und Lavendel.
Der Diffuser stand wie gewohnt auf dem niedrigen Schrank aus unbehandeltem Kirschholz an der linken Wand. In gleichmäßigen Intervallen stieg der feine Nebel auf, verströmte den Duft und zerstob lautlos in der Luft. Die Zeitschaltfunktion arbeitete in festem Rhythmus: zwei Stunden in Betrieb, zwei Stunden Pause – ein Kreislauf, der sich über den ganzen Tag hinweg wiederholte.
Die Schiebetür aus mehrschichtigem, kugelsicherem Verbundglas – außen gehärtete Glasscheiben, innen eine Polycarbonatlage – stand einen Spalt offen. Durch die Öffnung strömte frische Luft herein und verstärkte den Eindruck von südländischem Flair, als würde ein Hauch Mittelmeer in der Wohnung liegen. Kein Hauch von Staub oder muffiger Rückkehrluft, nur diese kontrollierte, belebende Frische.
Sie ging zur Schiebetür und trat hindurch. Hier oben gab es Besonderheiten – kaum jemand wusste davon. Auf dieser Ebene war das Ruhr-Center um zehn Meter zurückgesetzt. So entstand eine Freifläche, die von einem Glasdach überspannt war: ein zehn Meter breiter Streifen zwischen Gebäude und Außenmauer, der sich über die gesamte Länge von 1,2 Kilometern zog.
Die Außenmauer maß 75 Zentimeter Höhe; der Zwischenraum zwischen ihrer Oberkante und dem Glasdach bestand ebenfalls aus Panzerglas. Getragen wurde die Konstruktion von massiven Stahlbetonpfeilern, die im Abstand von fünf Metern standen. In ihnen verliefen zugleich die Frischluftkanäle: doppelt geknickt, mit ballistischen Lamellen gegen Beschuss geschützt. Innen saß ein verriegelbarer Schieber – ein Handgriff, und die Zufuhr war unterbrochen. Bei Erschütterung fiel er von selbst zu.
Ihre waagerechten Verbindungsstücke – ebenfalls aus Stahlbeton – banden die Pfeiler sowohl untereinander als auch mit der Gebäudefassade. Da das Ruhr-Center selbst aus Stahlbeton bestand, gingen Pfeiler und Verbindungsstücke nahtlos in die Struktur über – wie aus einem Guss. Das einheitliche Material verschmolz Fassade und Glaskonstruktion zu einer durchgehenden, stabilen Front.
„Allein diese Glaskonstruktion musste Unsummen gekostet haben“, ging es Alexandra durch den Kopf. Sie betrachtete die Front fast ehrfürchtig. Acht Zentimeter Verbundmaterial trennten sie von der offenen Luft über dem Vorplatz. Für die meisten war es nur eine Scheibe – wer den ursprünglichen Zweck des Gebäudes kannte, verstand den wahren Nutzen: ein mehrschichtiger Schutz, entworfen, um Projektilen, Sprengsplittern und sogar kurzen Feuerstößen standzuhalten.
Die äußere Lage bestand aus gehärtetem Silikatglas, thermisch vorgespannt und chemisch nachgehärtet – so hart, dass selbst panzerbrechende Munition gebremst wurde. Dahinter lagen weitere Schichten Sicherheitsglas, verbunden mit kaum sichtbaren PVB-Folien, die Splitter banden und Risse in kontrollierte Bahnen zwangen. Direkt vor der Innenseite lag eine massive Polycarbonatplatte: zäh, elastisch, unzerbrechlich. Sie absorbierte die Restenergie, presste das Projektil flach und hielt es fest, bis jede Bewegung erlosch.
Diese Konstruktion entsprach BR7 NS nach DIN EN 1063 – der höchsten Norm für ballistisches Glas. Selbst panzerbrechende 7,62 × 51 mm NATO-Munition aus Präzisionsgewehren konnte sie nicht durchschlagen. Mit der Polycarbonatlage war sie zudem sprengsplitterresistent.
Sie ging zurück in die Wohnung, stellte die Kaffeemaschine an und öffnete die Glasschiebetür auf der Südseite. Dann trat sie hindurch, setzte sich auf das Hollandrad und fuhr die 1,2 Kilometer um das Gebäude herum. Es war eine reine Kontrolle, ob alles in Ordnung war. Im Gegensatz zu ihren sonstigen Rundgängen oder Fahrten fehlte ihr heute jedoch die innere Ruhe, die fantastische Aussicht von hier oben zu genießen.
Der Gebäudetrakt war auf dieser Ebene von außen nicht zu sehen. Die Glasfront war verspiegelt, doch dahinter verbarg sich dieselbe königsblaue Metallfassade wie am Rest des Ruhr-Centers.
Der Boden bestand aus sandfarbenem Stein, identisch mit dem übrigen Belag des l-förmigen Komplexes. Normalerweise umfasste eine Ebene des Ruhr-Centers rund 70.000 Quadratmeter; Ebene sieben jedoch nur etwa 58.000, da das Gebäude auf allen Seiten um zehn Meter zurückgesetzt war. Davor lag die entsprechend breite Freifläche.
Alexandra hatte den Raum zwischen Außenmauer und Gebäude schlicht „Freifläche“ genannt. Sie maß 12.000 Quadratmeter und hatte nur vier Zugänge: zwei von ihrer Wohnung, eine doppelflügelige Tür aus Spezialstahl direkt am Gebäudewinkel, wo der kurze und der lange Trakt aufeinandertrafen, sowie über den Quader, der in der Nähe ihrer Wohnung aus dem Stahlbetonboden ragte.
Diesen Quader hatte Alexandra selbst so benannt. Er war ein würfelförmiger Baukörper mit einer Kantenlänge von zweieinhalb Metern, exakt in der südwestlichen Ecke platziert. Seine Begrenzung bildeten die Außenmauern und das Glasdach; die beiden Wände zur Freifläche bestanden aus Vollverglasung, in die eine Glastür eingelassen war – ebenfalls aus Panzerglas. Nur ein Detail unterschied ihn: Zur Freifläche hin war das Glas nicht verspiegelt. Hinter der Tür führte eine Wendeltreppe eine Ebene tiefer in Alexandras Büroräume – der Quader war ihr direkter Zugang dorthin.
Hier endet die Geschichte – fürs Erste. Die Fortsetzung nimmt bereits Gestalt an. Wenn du neugierig bist, wann und wie es weitergeht, schreib mir eine kurze Mail – ich halte dich auf dem Laufenden: andreas@goerdes.eu