Castrop-Rauxel, Stadtteil Merklinde
Sonntag, 20. April, 22:04 Uhr
Gegenwart
Das Reihenhaus in der Siedlung lag still. Oben schliefen die beiden Kinder, erschöpft vom Tag.
Im Erdgeschoss saßen Arjen van Houten und seine Frau Nienke noch in der Küche. Auf dem Tisch stand eine halbleere Teekanne, daneben zwei Tassen. Aus dem kleinen Radio auf der Fensterbank lief leise ‚End of the World‘ von Miley Cyrus. Dann brach die Musik aus dem WLAN-Radio plötzlich ab. Kein Rauschen, kein Signal – nur Stille.
Arjen zog sein Smartphone hervor, prüfte die App für die Überwachungskameras. Keine Verbindung. Schwarzer Bildschirm.
Nienke hob den Kopf. „Schon wieder der Router?“
Arjen wollte gerade etwas erwidern, da zeichnete sich vor der Terrassentür eine Silhouette ab – kaum wahrnehmbar hinter dem Vorhang. Er hob sofort die Hand, ein knappes Zeichen an Nienke, still zu bleiben. Dann beugte er sich leicht zu ihr. „Bleib hier, geh nicht hoch zu den Kindern“, flüsterte er. „Sie dürfen nichts mitbekommen.“
Nienke fuhr erschrocken zusammen, die Augen weit aufgerissen. Ihre Finger krallten sich um den Henkel der Tasse, als hinge ihr Leben davon ab. Vor Angst hielt sie den Atem an und brachte nur ein stummes Nicken zustande.
Er verfluchte den Entschluss, zu Hause keine Waffe zu haben. Aus Prinzip hatte er die Türschwelle zur Grenze erklärt – das Zuhause seiner Familie sollte waffenfreie Zone bleiben. Ein Fehler, den er jetzt bitter bereute. Naiv, dumm – und unverzeihlich.
Dann wirkte alles wie im Zeitraffer. Mit einem Glasschneider setzten sie einen sauberen Kreis um den Griff, die Splitterschutzfolie hielt das Glas zusammen. Ein Mann hob das ausgeschnittene Stück an und legte es lautlos beiseite. Sofort griff ein anderer durch die Öffnung, der Riegel klickte. Die Tür sprang auf, kalte Luft strömte herein.
Drei Männer. Handschuhe, leise Schuhe, keine Worte. Einer sicherte den Flur, einer die Küche, einer blieb im Garten.
Nienke keuchte auf, kurz und erschrocken. Der Vorderste hob nur die Hand – kein Brüllen, nur ein Befehl. „Ruhig.“
Arjen stellte sich schützend vor Nienke, die Hände leicht erhoben. „Was wollen Sie?“
Keine Antwort. Nur der Griff, hart, aber ohne Wut. Klebeband, drei Lagen um die Handgelenke, präzise, nicht zu eng. Sie wollten ihn brauchbar.
„Bitte … die Kinder“, wimmerte Nienke.
Ein kurzer Blick des Mannes, dann wieder zu Arjen. „Nur er.“ Mehr nicht.
Arjen riss sich los, stieß seinen Körper gegen den Angreifer. Da traf ihn ein Ellenbogen hart zwischen Brustbein und Solarplexus – der Atem brach ab, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Noch während er nach Luft rang, kam der zweite Schlag: kurz, präzise, mit einem Teleskopstock gegen die Nervenbahn am Unterarm. Ein brennender Schmerz jagte durch die Sehnen, die Finger klappten kraftlos auf, als wären sie nicht mehr seine. Sekunden später führten sie ihn hinaus.
Nienke blieb zurück, die Hände noch immer um die Tasse gekrallt. Ihr Blick war leer, der Körper wie gelähmt. Kein Schrei, keine Bewegung – nur Schock.
Von draußen drang ein dumpfes Zuschlagen herein, das wie eine Transportertür klang. Gleich darauf das tiefe Grollen eines Motors, das sich entfernte. Für einen Moment wirkte alles wie zuvor – wäre da nicht der Vorhang, der sich im Luftzug bauschte, und das runde Loch in der Scheibe neben dem Griff, durch das sie die Tür geöffnet hatten.