1.4 Schwere Waffen
Grimmer zog einen neuen, dickeren Hefter hervor. Der Einband war an den Kanten rau und aufgefasert. Er legte ihn auf den Tisch und klopfte mit dem Finger auf das Deckblatt.
„Markus Reinhardt. Geschäftsführer einer Logistikfirma in Düsseldorf. Maschinenbauteile, Elektronik, Export, Import – nach außen sauber.“
Er schlug die Akte auf. Fotos zeigten Container dicht an dicht, Hallen mit hohen Toren, einen Glasbau mit spiegelnder Fassade. Makellos, wie aus einem Werbeprospekt.
„In Wahrheit geht es nicht um Schrauben.“ Seine Stimme war flach, der Unterton schneidend. „Reinhardt handelt mit Waffen. Pistolen, Sturmgewehre, Maschinengewehre, Panzerfäuste, Sprengstoff. Billig im Osten eingekauft, hier mit sattem Gewinn weitergereicht.“
Alexandra strich mit den Fingerspitzen über die Fotos, runzelte die Stirn. „Und niemand merkt, was da läuft?“
Grimmer schnaubte verächtlich. „Merken schon. Aber wer zu genau hinschaut, wird versetzt. Wer bohrt, bekommt plötzlich andere Aufgaben. Reinhardt hat ein Netz. Politiker, Wirtschaftsprüfer, Anwälte – alle halten die Hand auf.“
Für einen Moment war nur das Summen der Lampe zu hören. Dann fuhr Grimmer fort.
„Solche Männer sind schlimmer als die Fanatiker.“ Seine Stimme war jetzt rau. „Die Schreihälse mit Reichsflaggen sieht jeder. Aber die hier? Maßanzug, Glasfassade, makellose Bilanzen. Genau die machen die Bastarde erst kampffähig. Reinhardt ist der Knotenpunkt.“
Innerlich zuckte Alexandra bei dem Wort ‚Bastard‘ zusammen. Ihr Stiefvater hatte sie als Kind bei jeder Gelegenheit so genannt, weil sie das Kind eines Seitensprungs war. Doch sie drängte die Erinnerung zurück, und Grimmer bemerkte nichts.
„Und was hat unser Holländer damit zu tun?“ fragte sie ohne jede Regung.
Grimmer öffnete den Hefter erneut und legte eine weitere Notiz frei.
„Wir gehen davon aus, dass Markus Reinhardt Arjen van Houten in seiner Gewalt hat.“
Alexandra hob die Augenbrauen. „Er? Nicht das BDW?“
„Die Entführung lief über das Bündnis. Doch der Auftrag kam von Reinhardt. Er ließ den Job erledigen – als Gegenleistung liefert er Waffen zu Sonderkonditionen. Vor drei Nächten brachen Bewaffnete in van Houtens Haus ein und verschleppten ihn.“ Grimmer machte eine kurze Pause und strich mit den Fingern über die Tischkante. „Reinhardt liefert nicht nur die Waffen, sondern braucht jemanden, der sie am Laufen hält. Van Houten kennt jedes System – von Sturmgewehren über schwere Maschinengewehre bis hin zu Raketenwerfern. Er kann sie warten, reparieren, modifizieren. Außerdem ist er Spezialist für Sprengstofftechnik. Genau das macht ihn so wertvoll.“
„Er braucht also seine Hände und seinen Kopf. Das bedeutet, dass Reinhardt nicht vorhat, ihn wieder freizulassen.“ Alexandra blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam entweichen. Ihre Augen blieben unbewegt auf Grimmer gerichtet. „Er wird ihn also zwingen, mitzuspielen.“
„Genau.“ Grimmer nickte langsam. „Ohne jemanden wie van Houten bleibt das meiste Schrott. Mit ihm kann Reinhardt Waffenlager aufbauen, Sprengfallen konstruieren, sogar Munition umarbeiten. Kurzum: Er ist der Schlüssel, um den BDW durch Reinhardts Waffenverkäufe zu einer militärischen Truppe aufzurüsten.“
Alexandra lehnte sich zurück. Ihre Finger trommelten einmal auf die Armlehne, bevor sie innehielt. „Und der Waffenschieber profitiert doppelt.“
„Exakt. Reinhardt liefert nicht nur, sondern wartet und pflegt die Waffen. Praktisch wie ein Autohaus: Fahrzeuge verkaufen und den Service dafür leisten. Und das Ganze läuft über Volker Seebröcker.“ Grimmer stieß den Namen zwischen den Zähnen hervor. „Ehemaliger Bundeswehroffizier, heute Führungskraft im BDW und rechte Hand Reinhardts. Das Bindeglied. Er sorgt dafür, dass das Material dort landet, wo es gebraucht wird – und dass van Houten gezwungen wird, die Arbeit zu machen.“
Er nahm die Lesebrille ab und klappte die Bügel langsam ein. Dann legte er sie neben sich auf den Tisch. Für einen Moment herrschte Stille. Schließlich sagte er: „Wenn diese Kette nicht zerschlagen wird – Reinhardt, Seebröcker, BDW –, dann haben wir in ein paar Monaten eine Truppe. Schwer bewaffnet. Und technisch auf einem Niveau, das es nur beim Militär gibt.“
Alexandra verlor langsam die Geduld. „Herbert, bei allem Respekt – Sie machen mich wahnsinnig! Van Houten ist der Waffenmeister von Abteilung 42. Das BDW hat ihn entführt, an Reinhardt weitergereicht, und jetzt schraubt er zwangsweise an Waffen herum, die besser nie einsatzbereit wären. Wie kommen die überhaupt auf ihn, wenn unsere Abteilung so supergeheim ist? Und vor allem: Wann und wie soll er befreit werden?“
Ein Zucken ging durch Grimmers Finger, als wolle er etwas zerbrechen, das nicht greifbar war.
„Seebröcker kennt van Houten von der Technischen Schule des Heeres in Aachen“, erklärte er. „Damals Offizier in der Ausbildung, van Houten schon ein Waffenmeister mit Ruf. Er konnte Systeme reparieren, die andere längst verschrottet hätten. Das hat Eindruck hinterlassen. Seebröcker wusste, wie viel Wissen in dem Mann steckt – mehr als in jedem Handbuch. Und heute zwingt er ihn genau deshalb in seine Strukturen. Mit Reinhardt als Beschaffer und van Houten als Fachmann haben sie jetzt etwas, das es hier noch nie gab: eine funktionierende Rüstungszelle im Untergrund.“