Kapitel 1 – Operation ohne Mandat

1.5 Verbot aus Berlin

„Herbert, reden wir nicht um den heißen Brei. Was ist mit unserem Waffendoktor? Wann holen wir ihn raus?“

Grimmer schlug die Zigarrenkiste auf, griff blind hinein und zog eine heraus, als wäre es gleichgültig, welche. Er biss die Kappe ab und zündete sie an. Das Feuerzeug knackte laut im stillen Raum. Der Rauch stob schwer aus seiner Nase, als müsse er Druck ablassen. Einen Moment lang wirkte er wie ein wütender Stier, kurz vor dem Angriff.

„Gar nicht, Alexandra!“ Grimmer kippte den Rest des Kaffees hinunter und knallte die Tasse auf den Tisch.

Alexandra starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Nein, Sie haben sich nicht verhört. Eine Befreiung ist vorläufig nicht vorgesehen. Man will die Gruppe beobachten, Erkenntnisse sammeln – ein halbes Jahr, vielleicht länger. Die Hintermänner sollen sichtbar werden. Die Arschgeigen bei BND und BKA sitzen sich lieber den Hintern breit und schauen zu, während diese Schweinepriester unseren Staat unterwandern. Arjen van Houten bleibt derweil in Geiselhaft. Dass er Frau und zwei Kinder hat, die vor Sorge verrückt werden, interessiert keine Sau.“

Selbst jetzt rügte Alexandra ihn wegen seiner verbalen Entgleisungen. Bevor er reagieren konnte, winkte sie ab. Ihr Blick blieb hart auf ihn gerichtet.

„Also schön: Van Houten bleibt in Geiselhaft, während BKA und BND Listen füllen, Akten stapeln und Hintermänner zählen? Wie oft haben wir schon zugesehen, gesammelt, abgewartet – und was kam heraus? Nichts. Sie reden von Erkenntnissen, während ein Familienvater gefoltert wird.“

Grimmer wollte ansetzen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich sage es Ihnen offen: Ich werde unseren Holländer da rausholen. Wenn niemand sonst es tut, dann eben ich.“

Grimmer starrte sie an, als wolle er prüfen, ob sie das wirklich ernst meinte. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände vor der Brust.

„Alexandra – Sie spielen mit Ihrer Zukunft in der Sonderzugriffsgruppe.“ Seine Stimme war leise, aber scharf. „Das Kanzleramt hat ein ausdrückliches Verbot verhängt. Wenn Sie auffliegen, war es das mit Ihrer Karriere. Sie dürfen dann noch bestenfalls Staub in einem Archiv wischen, das keiner mehr betritt.“ Er schwieg einen Moment, sog hörbar Luft ein. „Verstehen Sie mich nicht falsch – ich würde ihn selbst rausholen, wenn ich könnte. Aber mir sind die Hände gebunden. Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen den Rücken freizuhalten, solange es geht. Mehr nicht.“

Alexandra hielt seinem Blick stand, unbeweglich. „Karriere?“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Darum geht es mir nicht. Ich habe meine Firma, mein Leben außerhalb. Wenn das hier endet, endet es eben. Aber van Houten lasse ich nicht im Stich – basta.“

Sie beugte sich leicht vor. „Wir haben schon genug Operationen platzen lassen, weil irgendjemand in Berlin Informationen wichtiger fand als Menschen. Diesmal nicht. Ich hole ihn da raus – mit oder ohne Segen von oben.“

Grimmer schüttelte bedauernd den Kopf. „Allein schaffen Sie das nicht, Alexandra. Nicht bei dieser Bedrohungslage.“

Alexandra schnaubte leise. „Sie meinen ein Team? Dafür haben wir keine Leute, die die Nerven haben, gegen die Anweisungen des Kanzleramts zu handeln.“

Grimmer griff nach einem weiteren Hefter. „Doch, eine Option haben wir.“ Er legte ihn vor Alexandra auf den Schreibtisch. „Johanna Falkner. Zwanzig. Offiziell IT-Spezialistin. Inoffiziell hat sie mir immer wieder Informationen beschafft, an die eigentlich niemand herankommt. Ein Talent mit Fähigkeiten, wie man sie selten findet.“

Er blätterte eine Seite auf, zog ein Foto hervor – junges Gesicht, braunes Haar, viel zu jung für das, was sie tat. „Van Houten hat sie unter seine Fittiche genommen. Nicht, weil jemand es befohlen hätte, sondern weil er etwas in ihr gesehen hat. Technisches Verständnis, aber auch die Ruhe, Systeme zu beherrschen. Er hat sie ins Drohnenfliegen eingewiesen – Start, Kurs, Stabilität, das ganze Paket. Mehr noch: Er hat sie an die Grenze geführt, wo Technik und Einsatz aufeinandertreffen.“

Grimmer sah Alexandra direkt an. „Für Falkner ist van Houten mehr als nur ein Ausbilder. Fast eine Vaterfigur. Er hat sie ernst genommen, ihr gezeigt, dass sie mehr kann, als nur hinter Bildschirmen zu sitzen. Genau deshalb ist sie entschlossen, ihn zurückzuholen.“

Alexandra schüttelte den Kopf. „Zwanzig Jahre alt, ohne Einsatzerfahrung, emotional gebunden. Das ist ein Risiko, kein Teammitglied. Wollen Sie wirklich eine Anfängerin in eine Geiselbefreiung schicken?“

Grimmer schob das Foto zurück in den Hefter. „Ich weiß, wie das klingt. Zwanzig, unerfahren, emotional an van Houten gebunden. Aber Sie irren, wenn Sie glauben, das mache sie schwach. Genau das hat eine Bindung geschaffen, die Sie nicht kleinreden sollten.“

Grimmer hielt Alexandras Blick stand. „Sie missverstehen mich. Niemand schickt Falkner mit einer Waffe in eine Geiselbefreiung. Das wäre Wahnsinn. Sie bleibt auf Abstand. Mit ihren Drohnen liefert sie Ihnen Augen aus der Luft, Karten in Echtzeit, Bewegungen, die Sie sonst nie sehen würden.“ Er klappte den Hefter zu und ließ die Hand darauf ruhen. „Und sie ist mehr als nur Pilotin. Sie kann sich in Systeme einklinken, die für uns sonst verschlossen bleiben – verschlüsselte Chats, Server, Überwachungskameras. Falkner war es, die die Linie zwischen Reinhardt, Seebröcker und dem BDW gezogen hat. Ohne sie wüssten wir nicht einmal, wer van Houten entführt hat.“

Alexandra schwieg einen Moment. Zu jung, zu unerfahren, zu nah an van Houten – alles in ihr schrie nach Risiko. Sie konnte sich nicht vorstellen, eine Zwanzigjährige in die Nähe einer Operation zu bringen, die garantiert blutig wird.

Und doch: Drohnen, Echtzeitbilder, Zugriff auf Daten von Reinhardt und Seebröcker – das war Gold wert. Falkner war verdammt jung, aber in ihrem Bereich offenbar außergewöhnlich gut. Gut genug, dass Grimmer sie einbinden wollte.

Alexandra atmete leise durch. „In Ordnung. Ich arbeite mit Falkner zusammen. Aber ich will klare Linien: Sie bleibt im Hintergrund, steuert ihre Drohnen und liefert Daten. Mehr nicht.“

Grimmer nickte knapp. „Genau dafür ist sie da.“

„Gut. Und die Kommunikation?“ Sie verschränkte die Arme. „Über die Kanäle der Abteilung läuft gar nichts. Ich will keine Protokolle, die später jemand liest.“

Grimmer nickte erneut. „Das ist längst geklärt. Falkner hat von sich aus einen eigenen Kanal aufgebaut. Abgekoppelt von allen Strukturen, verschlüsselt bis ins Mark.“

Alexandra runzelte die Stirn. „Sie hat das schon erledigt?“

„Genau deshalb halte ich sie für nützlich.“ Grimmers Stimme blieb ruhig. „Sie geht nicht nach Schema F. Sie baut Lösungen, bevor jemand sie anfordert. Wenn Sie also Kontakt brauchen: nur über diesen Kanal.“

Grimmer sah sie fest an. „Sie bekommen Urlaub, Alexandra. Offiziell zur Erholung, inoffiziell, damit Sie und Falkner ungestört arbeiten können. Zwei Wochen, bei Bedarf länger. Ich decke das.“

„Gut. Sagen Sie Falkner: Morgen um acht Uhr, Bäckerei Grobe im Ruhr-Center.“ Alexandra nahm die Tasse, leerte den letzten bitteren Schluck und schob den Stuhl zurück. Sie stand auf und betrachtete die Kaffeetasse. „Wer immer Sie an der Kaffeemaschine ausgebildet hat – es war ein Stümper. Das Zeug schmeckt grauenhaft.“

Grimmer seufzte. „Sie hätten auch ganz einfach nur Danke für den Kaffee sagen können.“

Mit einem knappen militärischen Gruß verließ Alexandra das Büro – ein Zeichen von Respekt, den sie nur Menschen erteilte, die ihn wirklich verdienten.